Die distanz zwischen mir und meinen verlusten, 1983

U-matic, PAL, son, couleur +bétacam PAL


Das Videoband beginnt mit der Queransicht mehrerer Bilder aus einem kunsthistorischen Buch, dessen Seiten langsam umgeblättert werden, dann erscheinen Figuren in Trachten bis bei der Abbildung eines indianischen Kriegers innegehalten wird. Musikalisch untermalt werden die schnell wechselnden Bilder, zum Teil durch schwarze Streifen zweigeteilt oder umgekehrt nur als schmale Bänder in einer schwarzen Rahmung gezeigt. Untermalt wird der Bildwechsel von Schuberts "Erlkönig". Die zum Teil mit Licht spielenden Bilder, wie bei den Reflexionen einer rotierenden Diskokugel oder dem immer wiederkehrenden Bild einer sich drehenden Vorrichtung, die ihren Schatten wirft, werden bald von Impressionen einer afrikanischen Lebensgemeinschaft überlagert. Analog dazu mischen sich zunehmend Trommelrhythmen und afrikanischer Gesang in den "Erlkönig" und lassen ihn nach und nach verstummen.

Die schwarzen Rahmen bzw. Bildstreifen reduzieren die Einzelbilder auf charakteristische Details, so daß die fragmentartigen Eindrücke im Bildfluß für den Zuschauer noch erkennbar sind, stellen assoziative Verbindungen der Einzelimpressionen her und bilden den komponierten Bildrahmen des Geschehens. Der Rahmen teilt die Bildwelten auch inhaltlich auf, oben erscheinen noch Bilder der afrikanischen Welt, unten werden Szenen des westlichen Lebens von Häusern, Kunstturmspringern und homosexueller Liebe angedeutet. Schuberts Musik wird wieder in den Vordergrund eingespielt, im Vollbild ist der Lichtspalt einer leicht geöffneten Tür zu sehen, die mit des Sängers letzten Worten aus der dramatischen Erlköniggeschichte "...in seinen Armen das Kind war tot" zufällt und die Klinke schnappt hoch.

"Die Distanz zwischen mir und meinen Verlusten" gibt eine Parabel auf zwei Welten ab und wie sie sich gegenüberstehen. Dabei spielen wieder übliche vorgefaßte Bilder beider Welten eine große Rolle, beispielsweise in der Abbildung des afrikanischen Kriegers, eine Illustration in einem europäischen Buch, das Artifizielle der westlichen Welt mit Kunstturmspringern im flackernden Diskokugellicht. Eingeblendete Textstellen weisen hinter die Kulissen des bunten Bilderflusses: "Aber noch unausdenklich furchtbarer, wenn sie als Peter Kuerten zur Welt gekommen wäre" und später "...doch dann machte die Erkenntnis, daß irgend jemand Peter Kuerten zu sein hatte, es unmöglich, Glück darin zu finden...". Es bleibt den Assoziationen des Rezipienten überlassen, ob er die Ähnlichkeit des Namens zu einem bekannten Sportmoderator zieht, entscheidend ist jedoch das Gedankenspiel, daß der Beliebigkeit des Verkörperns einer Person oder Rolle Ausdruck verliehen wird, wenn man nur einen Namen oder festes Bild im Kopf hat und der Inhalt wie auch Hintergrund dazu fehlt.

Marcel Odenbach entwirft hier einerseits ein absgeschlossenes Bild: mit dem Kind, daß im "Erlkönig" in den Armen des Vaters stirbt schließt sich die Tür, das Lebenslicht ist erloschen. Andererseits präsentiert er durch das musikalische Motiv am Anfang und Ende einen sich schließenden Kreis, der immerfort wiederholbar wäre. So könnte das Videoband als eine Analogie zum Leben gelesen werden, und über den Titel erhalten die Bildfragmente zusätzlich zu der gesellschaftlichen Ebene eine persönliche Dimension.

Lilian Haberer