Grand Mal, 1981

NTSC, Ton, Farbe


Dem Video Grand Mal, das als eines der Hauptwerke Tony Ourslers gilt, liegt folgende Frage zugrunde: Was würde passieren, wenn einem jungen Katholiken ein "schlimmes Übel" widerfahren würde? In einem Gespräch mit Elisabeth Janus erklärt er: "[...] Gut und Böse spielen in meinen ersten Kunstwerken eine große Rolle... Denn es waren grundlegende Elemente in der katholischen Sichtweise der Welt, in der ich groß geworden bin." 1 "Grand mal", auf Französisch einst ein Synonym für "Epilepsie", zeichnet sich durch eine hypersynchrone Entladung einer Neuronenpopulation aus. Gemäß der Definition von Tony Oursler handelt es sich um einen extremen Bewußtseinszustand, in dem alle Gefühle des Individuums, seine Emotionen, seine Überzeugungen und seine Erinnerungen, gleichzeitig erlebt werden 2. Dieser Zustand kommt dem rezitativischen Stil Tony Ourslers, der aus Bedeutungsverschiebungen und zahlreichen Assoziationen besteht, besonders entgegen. Sein Erzählprinzip ist mehr als eine strukturelle Gegenüberstellung. Er sucht beim Zuschauer eine besondere geistige und körperliche Prädisposition. Grand Mal ist als Mosaik konzipiert, das sich aus zwanghaften Bildern und Themen zusammensetzt. Tony Oursler befragt sich über den Sinn von Leben, Tod und Jenseits. Er untersucht das antinomische Nebeneinander von Religion und Wissenschaft. Da er in seinen Videobändern eine dualistische Denkweise umsetzt, kann der Zuschauer in das Drama einbezogen werden. Tony Oursler versucht, eine emphatische Beziehung zwischen den Zuschauer und den Darstellern in seinen Videos herzustellen. In der sehr komplexen Erzählung werden zahlreiche Stoffe und Techniken verarbeitet. Die Musik hat einen hinweisenden Charakter in Bezug auf die emotionale Ausrichtung. Grand Mal ist der Moment, in dem sich das menschliche Wesen an der Schwelle zum Tod rückblickend über sich selbst, über seine Handlungen und seine Überzeugungen befragt. Das Video ist von einer apokalyptischen Atmosphäre geprägt. Die ausdrucksstarke, rudimentäre Szenerie ist energiegeladen und hat einen kindlichen spielerischen Charakter. Der Körper schmückt sich mit Farbe und wird zu einer fiktiven Figur. Pappe vermischt sich mit Organischem. Würmer kriechen seitlich an den Figuren hoch. Blutige Füße schweben über Lanzen. Zwei bläulich angelaufene Gesichter thronen wie göttliche Erscheinungen über der Stadt. Graphische Figuren hinterlassen Hämoglobinspuren. Ein unerreichbarer Christus erstrahlt auf einer Säule. Würmer, als Symbol des Todes und der Verderbnis, schlangenhafte Formen der Sünde und Darmparasiten, treten in einem künstlichen Stadium miteinander in Wettstreit. Das Paradies wird von der Hölle abgelöst. Am Ende des Videos werden drei Rosen wie Pfähle in den Boden gerammt.


Dominique Garrigues


1 Elisabeth Janus, "Vers une grammaire psycho-dramatique de l'image en mouvement : un entretien avec Tony Oursler", Katalog Tony Oursler, capc, Bordeaux, 1997.
2 Vgl. mit John Minkowsky, "Les bandes vidéo de Tony Oursler", Ausstellungskatalog Sphères d'influence, Paris, Verlag Centre Georges Pompidou, 1986.