Histoire(s) du cinéma Episode 4A Le contrôle de l'univers, 1998

PAL, Ton, schwarzweiss und Farbe


Bevor Jean-Luc Godard 1978 vom Konservatorium für Filmkunst nach Montréal eingeladen wurde, um vierzehn Vorlesungen über die Geschichte des Films zu halten, hatte er dem italienischen Fernsehen bereits erfolglos ein Projekt über dieses Thema in Zusammenarbeit mit Henri Langlois vorgeschlagen. Um die Geschichte des Films zu verstehen, muß hier unbedingt erwähnt werde, welch wichtige Rolle der Direktor der französischen Kinemathek (gestorben 1977) bei der Ausbildung von Filmemachern der neuen Welle spielte. Durch die Programmplanungen von Henri Langlois, der die Geschichte des Films nicht chronologisch strukturierte, sondern sie aus stilistischen und thematischen Annäherungen der Filme entstehen ließ, nahm Jean-Luc Godard den Film bereits über Assoziationen wahr. Er gestaltete seine Vorlesungen in Montreal mit Hilfe von Filmausschnitten. Bei seiner Rückkehr faßte er sie in einem Buch namens Introduction à une véritable histoire du cinéma (Einführung in eine echte Geschichte des Films) zusammen, "echt" insofern, als sie aus Bild und Ton und nicht aus Texten besteht, mit oder ohne Abbildung, besteht;" 1. In diesem Buch stellt er seine eigenen Filme jenen gegenüber, die bereits in die Geschichte eingegangen sind, und zwar mit Hilfe einer Montage von Texten und Filmstreifenbildern, die er auf Videofrpmat vergrößert. Auf diese Experimentierreihe scheint das Projekt Histoire(s) du cinéma zurückzugehen, das im Jahre 1987 im französischen Fernsehen konkrete Formen annimmt (damals sind zehn Sendungen geplant).

Die beiden ersten Kapitel Toutes les histoires und Une histoire seule werden in Cannes 1987 gezeigt und 1989 im Fernsehen ausgestrahlt. Sie führen durch eine einzigartige Gegenüberstellung der Materie Ton und Bild einen typisch Godardschen Ausdruck ein, eine Art Erkennungszeichen, das in jedem Kapitel von Histoire(s) du cinéma, die heute aus acht Episoden besteht, wiederkehrt.
Seit Numéro deux (1975) nutzt der Regisseur die Montagemöglichkeiten des Videofilms aus: Texteinblendungen, Blinken, Zeitlupe und Stopptrick wurden, wenn man sie mit einem gesonderten, technisch immer perfekteren Tonband abspielte, zur Syntax, die für die Ausarbeitung der Abhandlung erforderlich war. Jean-Luc Godard bedient sich seit langem Methoden, die den Sinn anhand von Gegenüberstellungen aufzeigen. Genau diese Form wurde auch in Histoire(s) du cinéma verwendet. Im Stil von Fragments d'un discours amoureux von Roland Barthes 2, der das Kunstwerk als Ergebnis einer subtilen Montage offen genanntener literarischer Quellen darstellt, ist Histoire(s) du cinéma ein Versuch über den Film durch den Film mittels des Videos, das nur durch die neuorganisierte Übernahme von Zitaten existiert, die das Eigentum aller geworden sind, wie der Name "NON(C)JLGFILMS" bereits aussagt. Diese work in progress, die extrem gewagt ist, wenn man weiß, wie wenig geschätzt das reproduzierbare Kunstwerk war, - und dies umso mehr, als es hier die Reproduktion von Reproduktionen ist -, zeigt die Geschichte, während sie geschrieben wird (im Rhythmus der sich wiederholenden Geräusche seiner Schreibmaschine) und während sie betrachtet wird (das Geräusch des Montagetischs). Als Jean-Luc Godard uns in der ersten Episode darauf hinweist, das "video" "ich sehe" heißt, erklärt er uns, daß ihn "das Video gelehrt hat, den Film mit dem richtigen Blick zu betrachten, und die Arbeit des Films von einer anderern Warte aus zu sehen" 3.
Histoire(s) du cinéma ist das Ergebnis eines ehrgeizigen Projekts, das darin bestand, die individuellen Geschichten und die kolllektive Gechichte einander begegnen zu lassen. Jean-Luc Godard stellt seine eigene Geschichte - die den Geschichten von Histoire(s) eine autobiographische Dimension verleiht - und anekdotische Geschichten (Irving Thalberg verheiratet mit einer der hübschesten Frauen der Welt beispielsweise) Archivbildern gegenüber, die den Film zum Zeugen der Geschichte machen. Histoire(s) du cinéma ist ein Denkmal im Sinne von "Ort der Erinnerung", das den Anspruch an sich stellt, "alle Geschichten, die es gab", zu machen. Dennoch beschränkt sich dieses Werk nicht auf die beeindruckende Kollision von Filmbildern mittels eines Videorekorders. Sie ist das Aufeinandertreffen einer bessessenen Fragestellung Jean-Luc Godards auf eine Technik, mit der durch Zeitlupe auf eine etwas altertümliche Art und Weise das Wesentliche des Films berührt werden kann und "alle Geschichten des Films, die noch nie gedreht wurden" enthüllt werden, wie die erste Episode ankündigt; d.h. "das Unsichtbare wird sichtbar". 4 Die Zeitlupe ist eine subtile Art, die verschiedenen Schichten des Films sichtbar zu machen und die Überblendungen und Doppelbelichtungen und die scheinbar abbsurden Verbindungen zwischen den Filmen kurz zu erhaschen, während man mit den Stopptricks oder den Filmstreifenbildern zu den Anfängen des Films zurückkehrt.

Zwar wurden die Geschichte(n) des Films Histoire(s) du cinéma 1A und 1 B, seitdem sie 1989 auf Canal+ gesendet wurden, vielfach gezeigt und kommentiert, doch mussten zehn Jahre vergehen, bis die lang erwartete Fortsetzung kam.
Die beiden ersten Episoden, die eindeutig den Beginn einer "work in progress" ankündigten, wurden 1995 offiziell durch die auf den Filmfestspielen von Locarno und im gleichen Jahr in Cannes vorgestellten Episoden 3A und 4B ergänzt.
Nicht nur der Zeitaufwand Jean-Luc Godards für seine historischen Nachforschungen waren der Grund dafür, dass sich die von der Sendung untrennbare Produktion in die Länge zog, sondern auch die zahlreichen Verhandlungen rechtlicher Art, die Gaumont führte. Was die Kritikgeschichte betrifft, kann man interessanterweise feststellen, dass in dieser Zeit des Wartens ein schriftliches Übertragungsrelais die nicht existente, visuelle Materie ersetzte, um der mangelnden Information Abhilfe zu schaffen. Dieses Phänomen, bei dem man sich fragen könnte, ob Jean-Luc Godard es nicht sogar vorausgesehen hatte, trug dazu bei, dass Histoire(s) du cinéma zu einen Mythos wurde. In dieser Zeit schauten sich Jean-Luc Godards Angehörige einige Episoden an . Sie kommentierten anschließend das Zustandekommen. So wurde ein erster wichtiger Artikel zu diesem Thema von Jonathan Rosenbaum in der 22. Ausgabe von Trafic veröffentlicht, und ein weiterer im Mai 1997 von Dominique Païni in der Ausgabe 221 von Art Press. 1999 kamen schließlich gemäß dem schriftlichen Entwurf von Introduction à une véritable histoire du cinéma [Einführung in eine echte Filmgeschichte] die vier Bücher heraus, einige Monate später die vier Videokassetten und kürzlich die CDs des Tonstreifens, die abgesehen vom kommerziellen Charakter der Aktion ein Beweis für die drei möglichen Lesarten von Histoire(s) sind.
Die Histoire(s) du cinéma besteht jetzt aus vier Episoden mit jeweils zwei Kapiteln, d.h. insgesamt acht Teilen: 1A, 1B, 2A, 2B, 3A, 3B, 4A, 4B. Die Teile sind immer gleich aufgebaut: zwei Widmungen zu Beginn, dann der Vorspann der Produzenten (Gaumont / Périphéria…), anschließend folgen Ton und Bild dem Rhythmus der in Großbuchstaben, immer der richtigen Reihenfolge nach vorüberziehenden acht Titel von Histoire(s), - wie ein Leitmotiv, mit dem man das, was man im Projekt als Ganzes sieht, neu einordnen kann. Erst in der Hälfte des Videos werden Nummer und Titel des Kapitels angekündigt. Jede Episode endet mit "Fortsetzung folgt" (außer die letzte, denn hier sind die Histoire(s) wirklich zu Ende.)
Selbst wenn die beiden ersten Episoden leicht abgeändert wurden, kehren bei den Histoire(s) die Züge des Godard'schen Stils, die bereits 1988 da sind, immer wieder: das Geräusch der Schreibmaschine (wie das "Tak, tak, tak eines Maschinengewehrs), die Titelständer, deren Typographie in Großbuchstaben den Zweck verfolgt, die Flut der Zeichen zu mäßigen, und die Filmrolle, die auf dem Schneidetisch weitergegeben wird. Bildüberlagerung, Klangüberlagerung und Zeitlupe bilden grundsätzlich die syntaktische Matrix von Histoire(s). Je öfter man sich Histoire(s) betrachtet, um so stärker entsteht der Eindruck, dass das Video die letzte Möglichkeit Ende dieses 20. Jahrhunderts ist 5, die Künste im Sinne von Malraux und Langlois einander anzunähern. Sobald die Bedeutung von Histoire(s) im Hinblick auf Kritik und Geschichte sowie deren einzigartiger Charakter deutlich wird, darf man sich durchaus über die mangelnden zeitgenössischen Bezugnahmen, sowohl literarischer, kinematographischer als auch künstlerischer Art, wundern. Die veranschaulichende Funktion von Godards Filmen, das Fehlen von Künstlern, abgesehen von Nicolas de Staël und Francis Bacon 6, das nahezu komplette Schweigen zu den Schriftstellern von heute und die Schwäche des zeitgenössischen Films in den Augen Jean-Luc Godards veranlassen uns dazu, Vorbehalte im Hinblick auf die ästhetische Tragweite von Histoire(s) vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kunst zu äußern, zumal Godard diesbezüglich eine eher zurückhaltende Position einnimmt. Die Histoire(s) du cinéma, unerhört subjektiv und voller Melancholie, richtet sich in erster Linie an ihren Autor, der (mit nacktem Oberkörper und Mütze, oder einen Dirigenten nachahmend….) die Produktion seines eigenen Gedächtnisses verfilmt. Allen Anscheins zuwider handelt Histoire(s) du cinéma letztendlich nur wenig vom Film im Verhältnis zu den Archivbildern. Man merkt mit der Zeit, dass der Autor seine Perspektive verlagert: das eigentliche Thema ist weniger der Film sondern vielmehr die zeitgenössische Geschichte aus der Sicht Jean-Luc Godards.

1 Jean-Luc Godard, Vorwort zu Introduction à une véritable histoire du cinéma, Paris, Verlag Albatros, 1980.
2 Roland Barthes, Fragments d'un discours amoureux, Paris, Le Seuil, 1977.
3 Jean-Luc Godard, während eines Gesprächs mit Alain Bergala, den 12. März 1985 in Rolle ("L'art à partir de la vie", Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, les années Cahiers, Paris, Cahiers du Cinéma / Verlag Etoile, 1985).
4 Ausdruck Jean-Luc Godards aus dem Scénario du film Passion (1982).
5 Gilles A. Tiberghien hat zu Recht Histoire(s) du cinéma mit La Légende des siècles von Victor Hugo verglichen: "Histoire(s) du cinéma ist ein großes visuelles Gedicht, ein Epos, die Legende eines Jahrhunderts, die an der Tür der Geschichte horcht. Hier zeigt sich die Hugo'sche Seite Godards – deren direkte Erben Elie Faure und Malraux sind, die ihm im Bereich der Kritik Pate standen." (Art Press, Sonderbeitrag "Jean-Luc Godard", November 1998).
6 "Aufnahmen von Kunstwerken werden "genutzt", genau wie andere Aufnahmen – aus Kinofilmen, Dokumentarfilmen oder Werbung. Die Auswahl ist im Endeffekt recht "klassischer", kaum zeitgenössischer Art; es gibt nichts Moderneres als einen Picasso und Bacon und nichts Moderneres als die gegenständliche Kunst […]. Wie empfindest du als Kunsthistoriker diesen Mangel an Respekt?" ("Histoires d'images", Gespräch mit Hans Belting und Anne-Marie Bonnet, Art Press, Sonderbeitrag "Jean-Luc Godard", November 1998).

 

4A Le contrôle de l'univers, 27'

Während die sechs ersten Teile letztendlich leicht zu entschlüsseln sind, sobald erst einmal die Angst vor dem Zeichenüberfluss verflogen ist, bleibt die Bedeutung von Contrôle de l'univers unklar, und die Verbindung der Bezugnahmen dermaßen komplex, dass der Zuschauer oft ausgeschlossen wird. Hier kommt in Bezug auf die Histoire(s) als Ganzes, die nach Dominique Païni "den Film an sich in eine generelle Klangfarbe beunruhigender Fremdheit, nämlich vertrauter Offensichtlichkeit und Terror, stellt" ein gewolltes Verwirrspiel zum Tragen. Das, was man über ihn zu wissen glaubte, was man über seine Geschichte zu wissen glaubte, nämlich Chronologie, Einfluss, Antagonismus von Kunst und Geld – das alles ist nicht nur komplex, sondern äußerst konfus".1

Der erste Teil von Contrôle de l'univers, der vorwiegend literarisch und weniger visuell ausgerichtet ist (und in diesem Fall erweisen sich die bei Gallimard erschienenen Bücher als sehr nützlich) ist eine lange Befragung über die Beschaffenheit der Macht. Von Anfang an wird die Macht mit widersprüchlichen Begriffen beschrieben: "Die Bedrohung des Donners", die "Präsenz des Absoluten" können von einer "sanften und schwachen Stimme" ausgehen oder von einer "geflüsterten Macht", die Godard durch Künstlerinnenporträts veranschaulicht (Virginia Wolf, Camille Claudel…). Dieser Geistesstärke stehen die anderen, für Terror sorgenden Formen der Macht gegenüber: Staat, Polizei, Propaganda (Die Vögel von Hitchcock) und Armut (Jeanne d'Arc von Dreyer). Doch der Autor erinnert uns daran, dass dieser "tyrannische Gott" auch eine Schöpfung des Menschen ist. Er wirft hier die Frage der Verantwortung des Menschen auf, der, wenn er die Macht besitzt, mit seinen Gedanken und Händen Schönheit zu schaffen, auch Terror säen kann ( Freaks, pornographische Bilder, Lager).

In dieser Episode geht es anschließend um die Figur des Künstlers und sein Wirken am Reellen. Jean-Luc Godard zeigt die Porträts von Robert Bresson, Fritz Lang, Rainer Fassbinder und von Zeitgenossen, wie Eric Rohmer oder auch Philippe Garrel 2. Anschließend widmet er sich eingehend Alfred Hitchcock: "Alfred Hitchcock war der einzige verfluchte Dichter, der Erfolg hatte, weil er der größte Formenbildner des 20. Jahrhunderts war."

Die grenzenlose Bewunderung für den Filmemacher zeigt sich bereits in Histoire(s) du cinéma, doch hier wird sie konkret mit der Frage der Kontrolle des Universums in Zusammenhang gebracht, denn Hitchcock hatte dort Erfolg "wo Alexander der Große, Julius Cäsar und Napoleon gescheitert sind". Das Verhältnis von Jean-Luc Godard zum Film ist immer affektiver Art. Aus diesem Grund zögert er nicht, Hitchcocks Filme subjektiv zu interpretieren und die Symbole einer "Handtasche", eines "Busses in der Wüste" in Erinnerung zu behalten.

Der dritte Teil wird noch unklarer und befremdender, da das Thema auf eine Betrachtung der Schwierigkeit ausgedehnt, wird, den Film zu definieren. Als Alain Cuny mit seiner tiefen Stimme 3 einen langen lyrischen Text liest, hat Jean-Luc Godard, indem er dessen sehr melancholisches Gesicht zeigt, zum Film ein persönliches Verhältnis, ganz wie ein Gläubiger, der seinen Gott verehrt: "Der Film beweint uns nicht, er stärkt uns nicht, denn er ist mit uns und er ist uns [….]. Ihn gibt es auch dann noch, wenn wir alt sind, wenn wir zur herannahenden Nacht hinstarren, ihn gibt es auch dann noch, wenn wir tot sind…" Dieser nur schwer ertragbare Teil von Histoire(s) bringt Godards latente Enttäuschung zum Ausdruck, die in allen Histoire(s) zu finden ist, wobei er den Tod des Films verarbeitet (Maria Casarès in Orphée: "Diese ganze Geschichte gehört jetzt der Vergangenheit an, […], sie ist bald endgültig erstarrt. Für immer. In einer marmornen Vergangenheit, wie diese Statuen…") und der eigene Tod, in einem existentiellen Terror ("Ich bin verdammt, ich bin vergessen", mit Mordaufnahmen und einer Musik von Léo Ferré).

Marie-Anne Lanavère

1 "Que peut faire le cinéma" ["Was kann das Kino tun?"] (Vorwort), Art Press, Sonderbeitrag "Jean-Luc Godard", November 1998.
2 Der Mangel an zeitgenössischen Bezugnahmen wird ihm häufig vorgeworfen: "Man hat den Eindruck, dass alle Aufnahmen aus den 20er bis 40er Jahren stammen […]. Die zeitgenössischsten Regisseure sind anscheinend Fassbinder und Lynch. Ist die Zeit stehengeblieben?" fragt Anne-Marie Bonnet (Art Press, Sonderbeitrag "Jean-Luc Godard", November 1998)
3 Sie scheint aus dem Jenseits zu kommen, wie die Jean-Luc Godards in seinen Histoire(s) du cinéma. Dominique Païni beschreibt sie ganz richtig als "Geschrei des endenden Jahrhunderts", das durch "terribilità" gekennzeichnet ist. Die Histoire(s) du cinéma sind in erster Linie das: der Kampf – eines Engels? – gegen den Lärm des Jahrhunderts, das Geräusch von Massakern, Schreie jener, die man auslöscht, Schreie der Entrüstung, bedeckt durch das Dunkel des Spektakels, dem sich der Film schließlich "ausgeliefert" hat, wo man doch das Recht hatte, alles von ihm zu erwarten!"