IMMEMORY, 1997

CD-Rom, Ton, Farbe


In Momenten, in denen wir uns größenwahnsinnigen Träumerein hingeben, tendieren wir dazu, unser Gedächtnis wie eine Art Geschichtsbuch zu sehen: wir haben Schlachten gewonnen und verloren, Königreiche gefunden und verloren. Geringstenfalls sind wir Personen eines klassischen Romans ("Mein Leben, welch ein Roman!"). Ein bescheidenerer und ergiebigerer Ansatz wäre vielleicht, die Fragmente des Gedächtnisses in geographischen Begriffen zu erörtern 1. In jedem Leben würden wir Kontinente, Inseln, Wüsten, Sümpfe, übervölkerte Territorien und Terrae ingocnitae finden. Von diesem Gedächtnis könnten wir eine Karte zeichnen, der die Bilder leichter (und wahrheitsgetreurer) zu entnehmen wären, als Märchen und Legenden. Daß das Subjekt dieses Gedächtnisses ein Fotograf und Kineast ist, will nicht heißen, daß sein Gedächtnis an sich interessanter ist als das des Herrn, der gerade vorbeigeht (und noch weniger das der Dame), sondern einfach, daß er Spuren hinterlassen hat, mit denen man arbeiten kann und Konturen vorgegeben hat, mit denen man Karten erstellen kann.
Um mich herum habe ich Hunderte von Fotos liegen, von denen die meisten niemals gezeigt wurden (William Klein sagt, daß bei einer Geschwindigkeit von 1/50 Sekunden pro Aufnahme das komplette Werk des berühmtesten Fotografen weniger als drei Minuten dauern würde). Ich beistze diese "Schnipsel", die ein Film wie ein Kometenschweif hinter sich herzieht. Ich habe aus jedem Land, in dem ich war, Postkarten, Zeitungsausschnitte und Kataloge mitgebracht und manchmal auch Plakate, die ich von den Wänden gerissen hatte. Ich wollte in diesem Malstrom an Bildern eintauchen, um seine Geographie auszustellen.
Meine Arbeitshypothese bestand darin, daß jedes etwas weiter zurückreichende Gedächtnis besser strukturiert ist, als es scheint. Scheinbar durch Zufall aufgenommene Fotos, Postkarten, die je nach Laune des Moments ausgesucht wurden, fangen ab einer bestimmten Menge an, eine Reiseroute zu beschreiben und das imaginäre Land zu kartographieren, das sich in uns breit gemacht hat. Ich war mir sicher, daß wenn man es systematisch durchreiste, würde man entdecken, dass die scheinbare Unordnung meiner Bildherstellung einen Plan barg, einen Plan, wie in Piratengeschichten. Zweck dieser CD-ROM wäre zum einen, eine "Führung" durch das Gedächtnis und zum anderen, den Besucher seine eigene zufallsbedingte Navigation führen zu lassen. Willkommen also in "Gedächtnis, Land der Kontraste" -oder vielmehr, wie ich es genannt habe, Ungedächtnis: Immemory.
"Doch wenn von einer alten Vergangenheit nach dem Tod der Lebewesen, nach der Zerstörung der Dinge, nichts mehr übrig ist, bleiben treuer, als alles andere, lediglich Geruch und Geschmack noch lange erhalten, wie Seelen, die sich erinnern, warten und hoffen, auf der Ruine des Restes, die auf ihren fast nicht greifbaren Tröpfchen, das immense Gebäude der Erinnerung aufrecht tragen.". (Du côté de chez Swann, In Swanns Welt)
Jedem seine Madeleine. Für Proust war es die Madeleine von Tante Léonie. Noch heute gibt man in der Védie-Konditorei aus Illiers vor, das Orinialrezept zu haben (was soll man da nur von der anderer Konditorei auf der anderen Straßenseite halten, in der man ebenfalls behauptet, der Erfinder der "Madeleines von Tante Léonie" zu sein? Bereits ein sich gabelndes Gedächtnis). Für mich ist sie eine Figur aus Hitchcock. Die Heldin von Vertigo. Ich gebe zu, vielleicht ist es übertrieben, hinter der Wahl dieses Vornamens am Saume einer Geschichte, die vorwiegend die eines Mannes auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist, eine Absicht des Drehbuchautors zu vermuten, aber das ist ja unwichtig, Zufälle sind Pseudonyme der Gnade für diejenigen, die nicht wissen, wie sie sie erkennen sollen.
Zur Zeit von La Recherche (Auf der Suche nach...) steckte die Fotografie noch in den Kinderfüßen und man fragte sich vquot;ob dies Kunst sei", denn Kunst an sich war für Proust und seine Generation eine wichtigere Aufgabe als einfach seinen Wachdienst abzuleisten: nämlich, eine Verbindung zur anderen Welt darzustellen, der des kleinen gelben Mauerstücks von Vermeer. Doch heute ist es paradoxerweise vielleicht gerade die Verbreitung, die Demokratisierung des Bildes, das ihm ermöglicht, auf einen weniger ehrgeizigen Status einer gedächtnistragenden Empfindung, auf eine sichtbare Geruchs- oder Geschmacksvarietät zuzugreifen. Ein Amateurfoto, das an eine Episode unsere Lebens gebunden ist, löst in uns größere Emotionen (in jedem Fall andere Emotionen) aus, als das eines bedeutenden Fotografen, weil sein Gebiet der Kunst angehört und das, was uns der Erinnerungs-Objekt sagt sehr nah von der persönlichen Geschichte bleibt. Jean Cocteau hat dies komisch umschrieben, als er bemerkt hat, daß Cosima Wagner in ihrem Alter in Die schöne Helena von Offenbach gerührter war, als beim Nibelungenring ihres Mannes: "Siegfried, das Rheingold, Erinnerung von Triebschen, freudige Stunden, Nietzsche, der an Rée schreibt: wir gehen nach Paris, uns einen Cancan anschauen... Frau Wagner hat sich scheinbar die Götterdämmerung ohne Emotionen angehört. Ihr kamen die Tränen beim Königsmarsch." (Carte Blanche). Ich fordere für das Bild die Demut und die Macht einer Madeleine.
Der Aufbau von Immemory? Schwierig für einen Erforscher, die Karte eine Geländes aufzuzeichnen, das er gerade entdeckt. Ich vermag kaum einige Erkundungsinsturmente vorzuzeigen, meinen Kompaß, meine Zwicker, meinen Trinkwasservorrat. Was den Kompaß angeht, habe ich meine Anhaltspunkte in ferner Geschichte gesucht. Seltsamerweise finden wir in der unmittelbaren Vergangenheit keine Modelle dessen, was die EDV-Navigation bezüglich des Themas des Gedächtnisses sein könnte. Sie wird zu sehr von der Arroganz des klassischen Berichts und dem Positivismus der Biologie dominiert. "Die Gedächtniskunst" dagegen ist eine sehr alte Disziplin, die (und das ist die Höhe!) in Vergessenheit geraten ist, insofern, als sich die Trennung von Physiologie und Psychologie vollzog. Einige alte Schriftsteller hatten von den Meandern des Geistes eine funktionellere Sicht und es war Filipo Gesualdo in seiner Plutosofia (1592), der das Bild des Gedächtnisses als "baumartig verzweigt" beschreibt, falls ich mir erlauben darf, diesen Software-Ausdruck zu verwenden (ich erlaube mir). Doch die beste Inhaltsbeschreibung eines EDV-Projekts wie dem, was ich vorbereite, habe ich bei Robert Hooke gefunden (der Mann, der bereits vor Newton das Gesetz der Schwerkraft in Erwägung gezogen hatte, 1635-1702) :
"Ich werde jetzt ein mechanisches Modell des Gedächtnisses bauen, in dem alles deutlich dargestellt wird. Ich gehe davon aus, das es einen bestimmten Ort oder Punkt im Hirn des Menschen gibt, an dem die Seele ihren Sitz hat. Was die genaue Position dieses Punktes angeht, mache ich momentan noch keine Aussage und werde heute nur eines behaupten, nämlich, daß es einen Ort gibt, zu dem alle Eindrücke der Sinne weitergeleitet werden, um dort betrachtet zu werden; und daß diese Eindrücke lediglich Bewegungen von Teilchen und Körper sind."3
Mit anderen Worten, als ich vorschlug, die Regionen des Gedächtnisses eher mit geographischen als mit geschichtlichen Begriffen zu bezeichnen, knüpfte ich, ohne es zu wissen, an ein Konzept an, daß einigen Menschen des 17. Jahrhunderts vertraut war, denen des 20. Jahrhunderts jedoch vollkommen fremd ist. 4.
Aus diesem Konzept ergibt sich die in Zonen unterteilte Untergliederung der CD-ROM. So ermöglicht das Beispiel vom Anfang mit der Madeleine, die zu "Madeleine" wurde, das Aufzeichnen einer Topographie. Der "Punkt" Madeleine (um wie Hooke zu sprechen) befindet sich an der Schnittstelle der Zonen Proust und Hitchcook. Jede von ihnen überschnei mit anderen Zonen. Diese können Inseln oder Kontinente sein, von denen mein Gedächtnis die Beschreibung behalten hat, und meine Archive das Bild. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Arbeit keineswegs um eine Autobiographie, und ich habe mir alle möglichen Ableitungen erlaubt, bereit, die Funktionsweise des Gehirns zu untersuchen, um sich dessen zu bedienen, was man immer bei sich hat.
Doch mein innigster Wunsch ist, daß es hier genügend vertraute Codes gibt (Urlaubsfoto, Familienalbum, Fetischtier), damit der Leser-Besucher allmählig meine Bilder durch seine und meine Erinnerungen durch seine ersetzt, und damit mein Ungedächtnis dem seinen bei seiner eigenen Pilgerfahrt in die wiedergefundene Zeit als Trampolin gedient hat.

Chris Marker

1. Henri Langlois erzählte, daß er als Kind nicht begriff, was Zeit ist. Las er den Satz "Jeanne d'Arc hatte Paris belagert", dachte er, es handele sich um ein anderes Paris, und daß es auf einer unendlich großen Weltkarte außer dem Paris der Jeanne d'Arc das Paris ihres Vaters usw. gab.
2. Dieser Absatz war bereits geschrieben, als das außergewöhnliche Buch von Brassaï Marcel Proust sous l'emprise de la photographie (Gallimard) erschien, in dem Proust die Antwort selbst gibt: "Man kann, wenn man diese Bilder betrachtet (...) sehr wohl antworten, daß die Fotografie eine Kunst ist." (Essais und Artikel). Und Brassaï schreibt "wenn er einen Klang hört, einen Geschmack schmeckt, der die mysteriöse Eigenschaft hat, ein Gefühl, eine Emotion wachzurufen, kann man ihn nicht davon abhalten, dieses Phänomen mit der Erscheinung des latenten Bildes unter der Wirkung eines Entwicklerbades zu vergleichen." Doch man muß das ganze Buch lesen, in dem la Recherche du Temps Perdu (Auf der Suche nach der vengangenen Zeit) mit einer "riesigen Fotografie gleichgesetzt wird".
3. Ich verdanke dieses Zitat neben anderen Schätzen dem wunderbaren kleinen Buch von Jacques Roubaud "L'invention du fils de Leoprepes".
4. Der deutsche Linguist Harald Weinrich führt einen subtile Gedanken ein: den des "Kriegs zwischen dem Gedächtnis und dem Verstand" in dem die Philosophie der Aufklärung den Sieg des letzteren geopfert hätte. "Emile darf nichts mehr auswendig können."