The Red Tapes, 1977
NTSC, Ton, schwarzweiss
The Red Tapes ist ein Video in der Länge eines Spielfilms. Es besteht aus drei Teilen, die auf drei verschiedenen Bändern aufgezeichnet wurden und auf eine große Leinwand projiziert werden sollen. Dieses Video ist eine vielschichtige Synthese der künstlerischen Suche Vito Acconcis unter Zugrundelegen seiner Romane und Novellen, seiner Poesie, den Following Pieces, Handlungen und Performances, seiner Super 8-Filme und Videos. Es zeigt die psychologische Struktur des Individuums, sein Verhältnis zu anderen und zu einer bestimmten Kultur. Vito Acconci möchte sich durch eine existentielle Frage mitten in die Problematik hineinversetzen : Wie geht man mit dem Zwang der gesellschaftlichen Erwartungen und den vorgegebenen Sprachformen (Codes und Konventionen) über das Individuum um ? Bereits der Titel weist auf kritische Wortspiele, einerseits auf Grund des amerikanischen Ausdrucks, denn "red tapes" bedeutet Papierkram und Verwaltungsformalitäten, andererseits auf Grund des dominierende Sepiabrauns des dritten Bandes und der Verbindung der Farbe mit dem Idiom "Rot sehen" und einem Gefühl der Auflehnung.
Der erste Teil zeigt zum einen die Struktur des Ich in biographischer Form, obwohl es sich hier nicht um einen Bericht persönliche Erfahrungen handelt, und zum anderen das Verhältnis zur Geschichte Amerikas (z.B. die Ermordung Kennedys) und die Reaktionen, die der Bevölkerung gemein waren und das gemeinsam Erlebte zum Ausdruck brachten. Im zweiten Teil wird auf das zeitliche und menschliche Beziehungsgefüge verwiesen. Das Gelebte des Individuums wir durch den Stein, den man an eine andere Stelle rollt, symbolisiert, genau wie bei Sysyphus. Die Beziehungen des Individuums nach außen werden nacheinander inszeniert: die Einsamkeit (im Gefängnis), das Leben zu zweit, die Kameradschaft, die Straße, die Freundschaft. Diese Abfolge endet mit einer Robinsonschen Erfahrung (das Verhältnis der Zeit als chronologische Abfolge zur Vergangenheit des Individuums in einem isolierten und abgeschlossenen Raum). Die Vorstellung des zeitlichen, räumlichen und emotionalen Eingeschlossenseins dominiert.
Im dritten Teil verweisen Bezugnahmen auf die Erde, - wie z.B. Wind und Sand - auf die Kultur - Legenden, Literatur (Der letzte Mohikaner) und auf soziopolitische Umstände (Miss America) darauf, daß man sich mehr und mehr der Zugehörigkeit zu einer Kultur, ihrer Bedeutung und ihres Zwecks bewußt wird. Nimmt das Individuum und die Gruppe seine amerikanische Identität wahr, ist ein Abschluß erreicht oder führt sogar zum Ende der gestellten Problematik. Das Video endet also in einer langen Bildfolge, in der Vito Acconci im Stehen in der Froschperspektive fordernd in ein Mikrofon hineinschreit : "We found it"1.
Der Aspekt der Biographie, die relationalen Beziehungen und das Bewußtsein um die Kultur bilden die drei großen konzentrischen Schaffensräume. Das Auftauchen der Persönlichkeit im dritten Teil wird in ein dialektisches Verhältnis zum Inhalt des ersten Bandes gestellt : das willkürliche Eintauchen des Ich in eine gegebene Kultur durch dessen Geburt.
Die Vielfalt der verwendeten Sprachen, die Zerstückelung, die Diskontinuität, die Eingliederung in einen Raum, die gegenseitige Verknüpfung verschiedener Code und die Distanz zwischen Text und Bild machen dieses Video zu einer Art Labyrinth.
Der gesprochene Text entwickelt sich vom Monolog zum konstruierten Dialog eines Theaterstücks (im letzten Teil). Der Monolog wird vom Leitmotiv unterbrochen, von einem Chor, wie im Theater: "We are the people"2, von Wortlisten, kontextgebundenen und beschreibenden Onomatopöien. Die kollektive Stimme symbolisiert abwechselnd das Humane - durch den Ausdruck des Gefühls und der Phantasmen : "We had no country. We sailed away. How deep is the ocean ? How deep is the ocean ?"3 - und die amerikanische Kultur : "We told you to shape. We told you to form. We told you to build"4.
Vito Acconci erscheint am Anfang mit verbundenen Augen und läßt seinen Körper als Darsteller und die Voraussetzungen für die Art ESP-Übungen verschwinden, um über diverse Medien eine Welt darzustellen: Fotos von Landschaften (die direkt einem Buch entnommen sind), von Gebäuden, Autos, einem Atompilz, Karten der USA, Sketsche mit kleinen Miniaturobjekten (Knöpfe, Plastikfigürchen, kleine Autos), Sequenzen mit unbeweglicher Kameraeinstellung auf abstrakte, durch das Licht strukturierte Bilder, Kamerafahrten in nüchternen Theaterdekors - stufenförmige oder lineare Architekturen. Dem Videobild wird eine besondere Rolle zugewiesen, wenn es auf einen grauen Bildschirm reduziert wird, der systematisch als Zäsur eingesetzt wird. Verbunden mit den Variationen und dem Reichtum des Textes, dem verbalen Ausdruck und einer religiösen Musik ist das Bild der Ort einer Theatralität.
In My Word, sieht sich Vito Acconci im Verhältnis zu einer Biographie in Romanform und einer instrospektiven Überlegung, indem er sich bereits von der Arbeit mit den Super 8-Filmen und den ersten Jahren des Videos durch die Erweiterung seines Körpers auf den Raum des Ateliers und die Stadt abwandte, mit einer Sensibilität, durch die er sich den amerikanischen Künstlern seiner Generation annäherte. In The Red Tapes dehnt Vito Acconci die Befragung des Ich aus, um über die Synthese der in den vorangegangenen Arbeiten erworbenen Kenntnisse in den sozialen und kulturellen Raum einzutreten.
Thérèse Beyler
1 "Wir haben es gefunden."
2 "Wir sind das Volk."
3 "Wir hatten kein Land. Wir sind über die Meere gereist. Wie tief ist der Ozean! Wie tief ist der Ozean!
4 "Wir forderten dich auf, zu formen; Wir forderten dich auf, zu organisieren, Wir forderten dich auf, zu bauen."