La tarte au citron, 1993
PAL, Ton, Farbe
Eine Familie beim Essen. Fünf Personen. Drei erscheinen am Bildschirm, die Mutter Lili, der Sohn Fabian und die Tochter Coline. Eine Off-Stimme, Joël Bartoloméo, der Vater. Eine subjektive Präsenz, die Kamera.
Auftakt mit Blick auf die Büste Lilis in Großaufnahme. Ihr Kopf befindet sich außerhalb des Bildfeldes. Ihre Arme bewegen sich. Sie gibt Fabian Essen auf den Teller. Eine Bewegung der Kamera zeigt ihn uns am Tisch. Durch diese Bewegung gibt Joël Bartoloméo seine Anwesenheit, und ein Minimum an Situationskontrolle zu erkennen. Der Standort der Kamera stimmt nicht mit seinem überein. Die Kamera ist ein vollständiges Mitglied, ein weiterer Gast an seiner Seite. Diese beiden dort, der Künstler und die Kamera, nehmen lediglich durch Lilis Blick in ihre Richtung Form an. Die zwiespältige Allgegenwart des Künstlers und seines Mediums gibt dem Videobetrachter die Möglichkeit, sich zwischen die beiden zu schieben und sich in diesem subjektiven, mechanischen Blick aufzulösen. Und wir, wir laden uns ein. Wir kommen gerade, als die anderen beim Diskutieren sind:
Lili: Und wenn wir Montag-Dienstag fahren würden?… Nein, was wäre, wenn wir morgen fahren würden?
Joël: Morgen?
[…]
Joël: Donnerstag ist Schule!
Lili: Das hatte ich dich doch gefragt… Du hattest gesagt: Nein!…
Neue Einstellung. Lili ist jetzt links im Bildausschnitt. Ihr Platz schwankt je nach ihren Bewegung, mal ist sie im Bildfeld, mal außerhalb, wie es der Zufall will. Bald bekommt Sie ihren Kamerablick – ein Blick zum hypothetischen Zuschauer. Sie scheint diesen einzigartigen Gast als Zeugen für ihre Verwirrung zu nehmen. Ein sehr flüchtiger Blick, Lili ist sich nicht sicher, ob sie diesem Gast Aufmerksamkeit schenken soll. Nach dieser Einleitung erscheint endlich der Kuchen vor, der im Titel genannt wird. Dass die Situation vom Künstler gelenkt wird, äußert sich in der Wahl der Sequenz: Dieses Stück Wirklichkeit, dieser Ausschnitt aus dem Alltag, wird zu einer Minifiktion. "Es ist eine Fiktion, selbst wenn es Momente des Schreckens und der Angst gibt, die Handlung spielt innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums; es ist das allgemeine, sich gegenseitige Anstacheln, das mich dazu veranlasst, die Kamera einzusetzen, denn dieses Spiel werte ich aus…" sagt Joël Bartoloméo.
Lili Ich werde ganz blöde!
Sie hebt den Kuchen hoch.
Lili: Sieht aus, wie eine Trommel!
Sie wirft den Kuchen immer wieder hoch und imitiert das Geräusch eines Breis.
Lili: Tchuinng! Tchuinng!
Sie schneidet den Kuchen mit einer Schere durch.
Lili schaut zur Kamera, bevor Sie den Kuchen durchschneidet, so als wolle sie den Zuschauer zum Zeugen nehmen. Eine Art Verschworenheit in dem Moment, in dem die "Intrige" des Zitronenkuchens vorbereitet wird.
Coline: Mama, wenn er gut ist, umarme ich dich!
Lili: Er ist nicht gut, schau her, hast du gesehen, wie der Teig aussieht?
Lili probiert den Kuchen.
Lili: Also der Teig, das ging wirklich daneben…gebacken und nicht gebacken zu gleich.
Der Einfallswinkel der Szene ändert sich. Die Bewegung geht von Lili aus in Richtung Tischmitte. Lili beugt sich vor. Ein Teil ihres Gesichtes ist sichtbar. In der Mitte der Kuchen. Eine unbewusste Handlung? Lili versucht immer wieder, auf dem Bildschirm zu erscheinen und stückchenweise in das Bildfeld zu rücken.
Lili: Er ist gut, mein Kuchen, möchtest du nicht einmal probieren. Er ist wirklich lecker.
Joël: Du hast gesagt, er wäre nichts geworden.
Lili, ungläubig: Nein, nein, er ist wirklich sehr gut.
Joël, kaum hörbar: Na dann lass' mich mal probieren.
In einer anderen Einstellung umschlingen die beiden Kinder Lili, stellen sich rechts und links neben sie und drängen sie ein wenig mehr in das Bildfeld. Die Kinder gehen aus dem Bildfeld, wie ein Vorhang, der sich öffnet. Das entmutigte, verstimmte Gesicht Lilis erscheint in der Mitte der Einstellung. Ihr Blick streift die Kamera, ohne darauf ruhen zu bleiben. Der subjektive Blick des Kamera-Zuschauers gleitet ab in eine Art Voyeurismus.
Lili: Hol mir eine Zigarette! Ich muss jetzt sofort eine rauchen, sonst esse ich den ganzen Kuchen auf. Hol mir eine Zigarette, Coline, so-fort! Aber schnell… Warum hast du dein Stück Kuchen nicht aufgegessen?
Joël Bartoloméo gibt zu, in seinen Filmen mit nur wenig Schnitten zu arbeiten, um nicht den Eindruck zu erwecken, er täusche den Zuschauer. Die nun hintereinander folgenden Einstellungen sind oft auf das Anhalten und erneute Starten der Kamera zurückzuführen. Dies entspricht den Sprüngen bei Méliès, sagt er. Wir waren ganz einfach Zeugen eines kleinen Theaterstücks, eines Essen wie ein Rituals. Joël Bartoloméo vergleicht sich gerne mit einem Ethnologen, der die Szene so nimmt, wie sie sich darstellt.
Was dieses Werk von jenen Sendungen unterscheidet, die im Fernsehen produziert werden, ist die große Autonomie, die der Kamera gelassen wird, die Berücksichtigung des Mediums in der neuen Transkription der Szene. Eine Mechanik, die das Reelle umschreibt und manchmal vergessen lässt, dass das Auge nicht mehr dahinter steht. Ein Dialog zwischen dem Künstler und seiner Kamera, wie die Absprache eines Regisseurs mit seinem Kameratechniker!
Ausblendung. Man hört Lilis Stimme.
Lili: Beeile dich und gib mir eine Zigarette, sonst esse ich dein Stück Kuchen auf!
Dominique Garrigues