Lili m'a dit, 1997

PAL, Ton, Farbe


Ein Frühstückstisch, im Vordergrund der Rand einer Tasse, dahinter eine Frau, Lili, der man bei der Einstellung den Kopf abgeschnitten hat. Sie spricht. Ihre Hände begleiten ihre Worte mit suggestiver Gestik, wie bei einem Mimen. Die in der Bildfeldmitte zu sehenden Finger sind nervös. Lili ist in ihrem Element, sie stürzt sich in wilde psychoanalytische Betrachtungen. Wie immer bei Bartoloméo kommt man mitten im Geschehen dazu. In diesem Wortwechsel stellt er das Selbstgespräch einer Frau dem Autismus eines "Mannes mit Kamera" gegenüber.

Lili: "[…] genau deswegen hat der Mann hinterher Angst vor der Frau… ist dir klar, wie allmächtig die Mutter ist.. aus dem Bauch… er hat alles im Bauch, warum sollte das Baby hinaus wollen? … ihm geht es gut im Bauch der Mutter … warum sollte er dahin, wo es Leid gibt? … […] wo er sich ganz plötzlich von der Mutter lösen muss…wo sein Körper doch ein Teil von ihr ist! Es ist nicht mehr mit der Mutter verbunden… Jemand muss da sein, der Mann nämlich, um ihm zu helfen, sich zu lösen und zwar genau in dem Moment, wo man die Nabelschnur durchtrennt und dir sagt: jetzt bist du frei, du bist nicht für immer an sie gebunden…, nein, man hängt ihn als Baby an die Mutter, wie eine Klette! Doch später hat er sein ganzes Leben lang keine Chance … Ganz normal, dass er die Frauen hasst, denn er kann niemals ganz frei sein.. […] alle Männer sind gleich, sie wurden alle so großgezogen… die Mutter… Man muss sie beschützen, die Mutter! Mutter mit einem großen M! Es gibt sogar welche, die so Mist Bilder über Mutter und Kind gemalt haben; Da, der, der….

Joël, nicht sehr überzeugte Stimme von Weitem: Hey, hör auf!…
Lili: […] der, der….… nein, wenn ich nur daran denke, bekomme ich Zustände… einfach so… das muss man alles relativieren… das ist komisch, so ein Zufall, dass ich im Museum war, da war einer, der Bilder über Mutter und Kind gemalt hat.. sie seufzt… das muss aufhören, so schön ist das auch nicht!

Lili, diskutiert ganz aufgeregt weiter über die Abhängigkeit von der Mutter, über den Verlust des Selbstbewußtseins, über die Vaterschaft der Männer. Eine Viertelstunde, in der die eindringliche Stimme wie ein tanzender Derwisch zu hören ist, trunken von dem Bedürfnis, zu sprechen, dreht sie sich im Kreise, wiederholt sie ihre Worte immer wieder und macht den Zuhörer ganz benommen. 1994 erläutert Joël Bartoloméo seine Werke wie folgt: "Mein Gesichtspunkt ist vor allem ästhetischer Art, ich interessiere mich nicht so sehr dafür, was Lili sagt. Ich beschließe, dass es immer einen Anfang, eine Mitte, ein Ende und ein Ausblenden, gefolgt von einem Epilog gibt, denn es handelt sich um einen Lebensabschnitt. "Lili findet ihren Gesprächspartner der "bei sich selbst abwesend ist" und plappert weiter. Manchmal schaut sie zur Kamera, ihrer überdrüssig, setzt ihren Wortschwall nichtsdestotrotz fort, denn auch wenn die Kamera "abwesend" ist, so zeichnet sie sie doch auf, hört sie doch zu. Sie scheint sich vor der Kamera zu befreien, und die Rolle der Frau, Mutter, Muse und Schauspielerin gleichzeitig zu spielen. Eine Alltagsschizophrenie, eine Art stillschweigendes Spiel zwischen Künstler und Modell; Lili würde fast ganz natürlich Pose stehen.

Lili wird in der Kameraeinstellung immer nur annähernd erfasst, so als sei ihre physische Anwesenheit nicht von Bedeutung. Bartoloméo filmt jenseits der Zeit und versucht, "Erinnerungen an die Gegenwart" zu erfassen. Die Kamera schwenkt um 360°, erfasst die ganze Küche, ruht einige Zeit auf einem der Hauptdarsteller und schwenkt dann wieder weiter. Joël Bartoloméo schaut nicht in den Sucher. Es ist der indiskrete Blick der Mechanik, der in der Intimsphäre stöbert.

1997 erklärt Joël Bartoloéo: "Wenn ich diese Momente wiedersehe, merke ich, dass unser Tun auf einem Manko basiert, einem Mangel an Personen nämlich. Sie hat das Gefühl, nicht zu existieren und ich, ich habe, das Gefühl, nicht da zu sein." Die Kamera lässt seine Gegenwart spüren. Lili sagt selbst: "Das hat mein Leben verändert. Ich habe mich gesehen, das ändert alles, man wird sich seiner selbst bewußt." In Momenten, in denen sich Lili ihres Auftretens bewußt wird, hört sie manchmal auf, zu sprechen.

Aufnahme eins: Lili: Nicht filmen! Ich habe keine Lust. Joël: Ich filme gar nicht...
Mit ausgestreckten Armen dreht er die Kamera um die eigene Achse; Coline (ihre Tochter) und er tauchen im Bildfeld auf.
Aufnahme drei: Lili: Hör auf, ich kann nicht…
Die Kamera filmt den Raum.
Lili: Hör auf damit!
Aufnahme sechs: Lili: […] Man versteht auch… Hör jetzt endlich auf mich, zu filmen, das nervt, los! Man versteht auch, dass sie in der Bibel gesagt haben, dass Mann und Frau getrennt sind, das heißt, da ist Adam und da ist Eva… doch im Grunde ist das falsch, wir tragen Adam und Eva in uns…

Trotzdem sie sich gestört fühlt, spricht Lili weiter. In seinem Tagebuch notiert Joël Bartoloméo am 20. Mai 1995: "Lili fühlt sich wie eine Mücke in einem Glas, sie würde gerne das Glas zerschlagen. Ich fühle mich wie eine Maschine, die aufnimmt, ich merke, wie ich sie bis zum letzten quäle, ich habe Angst, dass sie explodiert, sie wird gemartert, wie ein Tier das an eine zu kurze Kette gefesselt ist. Ich habe das Gefühl, dass ich die Kette in der Hand halte." 1 Bei jeder Vorhaltung Lilis lässt die Kamera locker, "zertrennt sie die Nabelschnur" und dreht ins Leere. Lili steht permanent unter Druck, die Kamera, deren Ästhetik an eine Art Automation der Wahrnehmung für den Hausgebrauch denken lässt, ist allgegenwärtig. 2   Eine moderne Art der Vervielfachung der Fernüberwachung, die unaufhörlich auf das Unerwartete, Plötzliche lauert, auf das, was hier und da, an diesem oder jenen Tag eintreten könnte. 3  Die entscheidende Frage für Joël Bartoloméo ist: Wann schaltet man sie an und warum?" Man stellt sich auch die Frage, ob der Künstler wirklich anwesend ist, so geringfügig scheint seine Teilnahme am Geschehen. In seinen Kunstwerken befindet sich der Künstler immer außerhalb der Einstellung und steht niemals direkt hinter seiner Kamera.

Lili: Und du, wenn du zwischen Coline und mir her schwenkst, wo bist du denn dann?

Joël: Ich, ich zeichne auf…. ich zeichne alles auf, was gesagt wird.
Lili: Ja und wo bist du in diesen Momenten.
Coline: in der Mitte.
Lili: Du bist abwesend. Du bist weder bei der einen noch bei der anderen…

[…]
Coline: …er ist nicht da, er ist dabei, zu filmen …
Joël: Ich, ich bin weit weg…

Die Kamera filmt ins Leere… Lili ist hier und jetzt. Joël Bartoloméo verweilt irgendwo in der Erinnerung seiner Gegenwart.

Lili: …du bist nicht da… ich meine damit, du bist dir selbst gegenüber nicht da… Du bist gefangen im Bauch deiner Mutter.

Dominique Garrigues

1 Maintenant ou jamais, Tagebuch von Joël Bartoloméo, Paris, Alain Gutharc, 1997.
2 Seltsamerweise deckt sich Lilis Gesprächsdrang teilweise mit dieser Ästhetik, wenn sie von Erziehung spricht: "[…] es gibt positive und negative Grenzen, wenn man nicht im Bildfeld ist…"
3 Paul Virilio, La Machine de vision, Paris, Galilée, 1988.